Interview

«Betreuung älterer Menschen kann nur gemeinsam gelingen»

80 Jahre hinke das massgebende Krankenversicherungsgesetz (KVG) hinter der Realität der modernen Gerontologie hinterher, schrieb Markus Leser in der NZZ am Sonntag. Im Interview erklärt der Geschäftsführer von Curaviva, was dies für die Betreuung bedeutet und was er von unserem Finanzierungsmodell hält.

08.03.2022

gutaltern.ch (GA): Wie Sie in der NZZ am Sonntag schreiben, hinkt das massgebende Gesetz 80 Jahre hinter der Realität der modernen Gerontologie hinterher. Welche Folgen hat dies für die Betreuung älterer Menschen?

Markus Leser (ML): Das Krankenversicherungsgesetz und damit die politische Wahrnehmung fokussiert stark auf die Defizite eines Menschen. In der Akutmedizin ist es üblich, dass ein Defizit behoben werden muss. Als Konsequenz geht man davon aus: Alter ist ein Defizit. Und genau das ist per se falsch. Das Alter bietet eben auch Kompetenzen und Ressourcen.

Die Gerontologie kennt seit den 80er-Jahren ein Kompetenzmodell, das alle Aspekte berücksichtigt – also Körper, Seele und Geist – und somit eine ganzheitliche Pflege, Betreuung und Begleitung erfordert. Das haben Politik und Gesellschaft bislang nicht verstanden. Und deshalb fokussiert die heutige Finanzierung auf die Pflege. Betreuung und Begleitung aber werden vernachlässigt und so letztlich die älteren Menschen.

(GA:) Welchen Wert messen Sie bei der Unterstützung älterer Menschen der Betreuung zu?

(ML:) Für mich hat die Betreuung einen hohen Wert. Aber in Gesellschaft und Politik wird diese gering geschätzt: Oft versteht man darunter «ein bisschen Kaffee trinken, ein bisschen spazieren gehen» – das kann doch jeder. Und diese Geringschätzung sieht man auch bei der fehlenden Finanzierung.

(GA:) Und wie sehen Sie das Zusammenspiel von Betreuung mit Hilfe und Pflege?

(ML:) Ich bin froh, nehmen sich die Paul Schiller Stiftung, aber auch andere Akteure dem Thema Betreuung an. Dieses Thema muss mehr Gewicht erhalten. Meine Mutter ist jetzt mit 87 Jahren ins Pflegheim eingetreten und erhält pflegerische Unterstützung. Das sind rund zwei Stunden im Tag, an denen sie gewaschen und gepflegt wird. Wenn sie 6 bis 8 Stunden schläft, bleiben immer noch 10 bis 15 Stunden jeden Tag, in denen es etwas braucht: Gespräche, Aktivierung, Ausflüge, Begleitung etc. Das wird zwar teilweise geleistet, aber dennoch sind da weiterhin viele Stunden, an denen nichts passiert. Um dies zu ändern, braucht es finanzielle Mittel und jemanden, der sich die Zeit nimmt, diese Leistungen zu erbringen.

Das Modell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» ist ein guter Ansatz: Es braucht eine finanzielle Abgeltung. Aber für mich ist offen, ob dies in Form von Betreuungsgeld oder Zeitgutschriften geschieht.
Markus Leser, Geschäftsführer von Curaviva

(GA:) Sie zeigen eindrücklich, dass die heutige Finanzierung die falschen Anreize schafft. Die Paul Schiller Stiftung hat mit dem Modell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» versucht, einen möglichen Weg zu zeigen. Gibt es Elemente daraus, die Sie vor diesem Hintergrund besonders wichtig finden?

(ML:) Das Modell «Betreuungsgeld für Betreuungszeit» ist ein guter Ansatz: Es braucht eine finanzielle Abgeltung. Aber für mich ist offen, ob dies in Form von Betreuungsgeld oder Zeitgutschriften geschieht. Doch allein mit Geld lösen wir das Problem nicht. Auch wenn wir da Milliarden reinbuttern würden.

Die Lösung der Finanzierung ist das eine, das Zusammenbringen der Mitwirkenden ist das andere. Es braucht jemanden, der wie ein Dirigent die Angehörigen, die Nachbarn, das professionelle Hilfesystem und das informelle System eines älteren Menschen orchestriert und anleitet.

(GA:) Kann es ein Teil der Lösung sein, in Heimen nebst Pflegepersonal auch Fachpersonen mit sozialarbeiterischem Hintergrund anzustellen, die den psychosozialen Aspekten Rechnung tragen können?

(ML:) Ja, warum nicht? Es braucht nicht zwingend einen sozialarbeiterischen Hintergrund, jedoch Fachpersonen, welche psychosoziale Aspekte abdecken. Es gibt zum Beispiel Fachangestellte Betreuung, die in Richtung Betreuung und Begleitung sensibilisiert und ausgebildet sind.

Immer wieder höre ich Zweifel: «Das können wir uns doch nicht leisten!» Das ist nur die halbe Wahrheit. Um bei der stationären Wohnform zu bleiben: Es benötigt ja nicht jedes einzelne Heim eine solche Stelle, aber die Heime einer bestimmten Region könnten eine solche Fachperson gemeinsam beschäftigen, die dann auch an mehreren Standorten ihren Einsatz leistet. Und das muss finanziert werden.

(GA:) Wer ist in der Verantwortung, mit der Finanzierung der Betreuung älterer Menschen vorwärts zu machen?

(ML:) Alle! Salopp gesagt: Heute heisst Pflegefinanzierung, Geld aus der Kasse eines anderen holen. So wird auch gedacht: Andere sollen das machen – der Bund, der Kanton oder die Gemeinde. Wenn man aber integrierte Unterstützung älterer Menschen ernst nimmt, dann tragen alle Beteiligten Verantwortung. Selbstverständlich auch die Politik, die beispielsweise sehr zögerlich die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen angeht. Und wir müssen das Kästchendenken beenden: hier ambulant, da stationär und dann noch etwas dazwischen. Die Betreuung älterer Menschen kann nur gemeinsam und ganzheitlich gelingen.

Zur Person

Markus Leser, 63, ist Gerontologe und Geschäftsführer von Curaviva. Er leitete von 2003 bis 2021 den Fachbereich Menschen im Alter von Curaviva Schweiz. Per 1. Januar 2022 ging dieser Fachbereich in die Föderation Artiset mit ihren Branchenverbänden Curaviva, Insos und Youvita über.