Interview

«Die vergangene Normalität ist keine Option»

Wir haben mit vier Vertreterinnen und Vertretern aus verschiedenen Bereichen der Betreuung gesprochen. Erstaunlich, wie gleich und doch verschieden der Corona-Alltag ist.

21.04.2020

Sie alle betreuen alte Menschen – was ändert die Pandemie für diese und für Ihre Institutionen?

Theo Deutschmann: Es gibt eine Welt vor Corona und eine Welt mit Corona. Es hat sich massiv viel geändert. Unsere Bewohner erhalten keinen Besuch mehr von ihren Angehörigen und Bekannten. Etwas, das wir nie wollten, ist eingetroffen: Unsere Bewohner sind «ghettoisiert». Die Bewohner dürfen das Haus und das Gelände nicht mehr verlassen, niemanden treffen. Nur noch unsere Mitarbeitenden sind physische Ansprechpartner. Es wird jetzt noch sichtbarer, dass wenn man alt ist, der Tod vor der Türe lauert... Wenn man 80, 90 Jahre alt ist, dann hat man nicht mehr so viel Zeit zu leben. Dann zählt eigentlich jeder Tag – so nimmt Corona sehr viel Lebensqualität weg.

Sigrid Daenzer
Leiterin der Vermittlungsstelle, Verein «Besuchsdienst Zuhause Oberer Zürichsee»

Theo Deutschmann
Geschäftsführer Schönbühl, Kompetenzzentrum für Lebensqualität, Schaffhausen

Monika Kaspar
Sozialdiakonin, reformierte Kirche Stäfa

Hannes Koch
CEO, Leiter Dienstleistungen, Spitex Kriens

Monika Kaspar: Wir haben nicht die gleiche Ausgangsituation wie Herr Deutschmann. Aber natürlich sind auch bei uns die Besuche zuhause und in den Alterszentren nicht mehr möglich – ebenso auch die vielen Kontakte an den Veranstaltungen und den Gottesdiensten. Stattdessen finden die Gespräche am Telefon statt oder die Verbindungen zu Gemeindemitgliedern werden per Mail oder Postkarte aufrechterhalten.

Sigrid Daenzer: So auch bei uns: Unsere Besucherinnen, die zum Gross­teil selbst der Risikogruppe angehören, haben im Lauf der vergangenen Wochen die Besuche durch Telefongespräche ersetzt und halten so den Kontakt zu ihren Besuchten aufrecht.

Hannes Koch: Wir haben unsere Prozesse im Betrieb zu einem grossen Teil umgestellt, um den Betrieb jederzeit gewährleisten zu können. Die Prozessumstellung bedeutet unter anderem, dass wir Schleusen eingerichtet haben und uns damit so organisiert, dass sich das Personal möglichst wenig begegnet, um allfällige Übertragungen zu vermeiden. Gegenüber den Kunden und deren Angehörigen haben wir mehrere Male gezielt über die Veränderungen informiert. Kundinnen und Kunden haben sich auch bei uns gemeldet und uns bestätigt, dass sie diese direkte Information schätzen. Sie sich so mit einem sicheren Gefühl weiter durch uns pflegen und betreuen lassen können.


Welche Bedürfnisse der älteren Menschen, der betreuenden Personen und der Angehörigen nehmen Sie in dieser Krise besonders wahr?

Daenzer: Im Kontakt mit anderen zu bleiben, mit jemandem reden zu können, das Gefühl zu haben, dass man jemandem wichtig ist, dass man seine Sorgen oder allenfalls Erlebnisse teilen kann – letztlich das Gefühl, nicht alleine gelassen zu werden. Dies ist sehr zentral. Aber ebenso wichtig ist natürlich die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Und für diejenigen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation noch können, dass sie Spaziergänge machen, sich draussen in der Natur bewegen – und zwar an Orten, wo sie nicht auf zu viele andere Menschen treffen. Aber vielleicht einmal auf jemanden, den sie kennen und mit dem sie auf Distanz kurz ein wenig plaudern können. Immer wieder sind auch Nachbarn sehr wichtig.

Kaspar: Ich kann dies nur bestätigen: Wichtig ist zu wissen, dass ein sorgendes Umfeld vorhanden ist, welches Unterstützung gibt oder geben könnte, falls es nötig wäre. Das können Verwandte oder Nachbarn sein. Nebst der konkreten Hilfe bei Besorgungen und dem Gefühl, umsorgt zu sein, ist es für die meisten älteren Menschen wichtig, dass sie die Möglichkeit haben, Gespräche zu führen. Gespräche helfen gegen die Vereinsamung.

Deutschmann: Für die betreuenden Personen, für die Mitarbeitenden, ist dies eine besonders herausfordernde Zeit: Sie leisten sehr viel und sind bereit, mehr Arbeit zu leisten. Der «Flaschenhals» sind zurzeit die Mitarbeiter. Sie haben Kontakt nach «Draussen». Und sie müssen sich einschränken – noch konsequenter als andere Berufsgruppen. Wenn sie sich in ihrer Freizeit nicht sehr diszipliniert verhalten, dann besteht die Möglichkeit, dass sie die Bewohner infizieren. Das ist eine grosse Verantwortung, die sie tragen. Vor allem aber müssen sie mehr leisten – nicht in der Pflege, die ist gleichgeblieben. Was mehr wird ist die Betreuung! Betriebe, die nicht schon vorher auf Betreuung setzten, der Betreuung keinen grossen Stellenwert gaben, die müssen nun enorm umstellen.

Betreuung rückt also in den Fokus.

Deutschmann: Genau, so ist es! Wenn man so will, hat die Corona-Zeit auch etwas Positives. Jetzt wird plötzlich deutlich, dass in den Alters­zentren nicht nur gepflegt werden muss, sondern dass das Zusammenleben ebenso wichtig ist wie die Hygiene. Was bringt es einem älteren Menschen, wenn er top gepflegt wird, aber sich niemand Zeit nimmt für ihn? Sich niemand mit ihm beschäftigt? Ich wünsche mir, dass diese Problematik gerade jetzt lautstark kommuniziert wird. Und Betreuung muss endlich auch entsprechend finanziell abgegolten werden. Nicht so, dass nur die Pflege verrechnet werden darf. Die Institutionen müssen auch für die Betreuung bezahlt werden. Unser System lässt das bisher nicht zu.

Wenn Sie von Betreuung reden, wie setzen Sie diese bei Ihnen in Schaffhausen im Alltag um?

Deutschmann: Erst einmal verfolgen wird den Grundsatz, dass ältere Menschen nicht nur alt und krank sind. In erster Linie nehmen wir sie als Menschen wahr – mit allen Bedürfnissen die Menschen haben. Und wir vermitteln Ihnen das Gefühl, dass sie trotz Alter immer noch wertvoll sind, etwas leisten können. Dann bauen wir eine Tagestruktur auf, die den Bewohnenden entspricht, beziehen sie und ihr Milieu bei Entscheidungen, die sie betreffen mit ein. Wichtig ist auch, dass man den Alltag so aufbaut, dass dieser überhaupt Betreuung zulässt.

Kaspar: Ich teile die Einschätzung von Herrn Deutschmann: Zu wissen und zu spüren, dass ein sorgendes Umfeld da ist, gibt den älteren Men­schen grosse Sicherheit und tut ihnen gut. Es stärkt sie, dass Menschen an sie denken. Einige ältere Menschen rufen vermehrt Alleinstehende an. Nachbarn gehen aufgrund der Coronakrise bewusst aufeinander zu, fragen nach, bieten Hilfe an, backen füreinander oder leihen Autos für Einkäufe aus. Es findet nun vielerorts ein sorgfältig gestalteter Umgang in der Nachbarschaft statt, der den älteren Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl gibt und ihnen gegen das Alleinsein hilft.

Welche Ängste bewegen die älteren Menschen?

Koch: Hier haben wir Unterschiedliches erfahren: Einerseits sind die Angst und Unsicherheit gross. Diese ernst zu nehmen, zuzuhören und zu beraten, ist ein wichtiger Bestandteil der Spitex-Arbeit. Anderseits erleben wir gerade bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen beides: Ein paar, die eine engere Betreuung benötigten. Andere aber auch, welche durch ihre psychische Erkrankung bereits Ressourcen aufgebaut haben, mit Krisen umzugehen.

Daenzer: Für viele steht die Frage im Zentrum, wie lange dieser Zustand noch andauern wird. Wann sie wieder mehr Kontakt mit den eigenen Verwandten oder Freunden – wenn es noch welche gibt – haben können, wann sie allenfalls wieder selbst einkaufen können, wann die Besucherin unseres Vereins wieder zu Besuch kommt und nicht mehr nur anrufen kann. Mit einer möglichen Ansteckung mit dem Virus gehen die meisten älteren Leute eher gelassen um.

Führen Sie vermehrt aufsuchende Gespräche?

Kaspar: Ein Telefonanruf bei Gemeindemitgliedern, die nicht persönlich bekannt sind, kann ein Türöffner sein, um Hilfe in Anspruch zu nehmen oder über Themen zu sprechen, die beschäftigen und Sorgen bereiten. So ist die aufsuchende Arbeit eine Chance, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die eine Begleitung auch nach Corona wünschen. So werden wir auf ältere Menschen aufmerksam, die zum Beispiel einen regelmässigen Besuchsdienst oder weitere Seelsorgegespräche nach der Coronazeit begrüssen.

Wie gestalten die älteren Menschen Ihren Alltag? Wie geben diese sich eine Struktur und einen Sinn?

Kaspar: Viele ältere Menschen machen täglich einen Spaziergang, häufig in einem Gebiet oder zu einer Zeit, wo weniger Menschen unterwegs sind, um sich nicht zu gefährden. Wer einen Balkon oder Garten hat, geniesst diesen bewusst und fühlt sich privilegiert. Einige haben Zeit für Bücher, Spiele oder haben ein Hobby, wie Musik oder den Hometrainer, das ihnen Trost gibt. Manche älteren Menschen erledigen Arbeiten in der Wohnung, im Haus und Garten und nützen diese Zeit bewusst, um Pendenzen zu erledigen. Garten und Balkon sind in dieser Zeit gute Oasen. Fast allen fehlt aber der soziale Kontakt, wie wir es schon ausgeführt haben.

Nebst der sozialen Isolation, wie erleben Sie die Situation von Vulnerablen, Hochbetagten und fragilen Menschen? – Vor allem auch wenn keine Angehörigen oder Nachbarn da sind.

Koch: Für diese Menschen, vor allem wenn sie keine Angehörigen haben, ist diese Situation äusserst schwierig. Oftmals ist die Spitex der einzige direkte Kontakt für diese Menschen. Die telefonischen Kontakte werden rege genutzt und der Kontakt zu den ehrenamtlichen Helfenden der Stadt Kriens ist für viele sehr bereichernd.

Kaspar: Alleinstehende, die zuhause leben und hochbetagt oder fragil sind, haben häufig die Spitex oder einen Mahlzeitendienst, die einen täglichen Kontakt geben. Einige leben jedoch ohne Unterstützung von aussen und fühlen sich nun einsamer und verunsichert. Es gibt auch einzelne Hochbetagte, die allein daheim leben und sich mit dem Alleinsein bereits vor der Coronakrise arrangiert haben. Einigen Vulnerablen fehlen die gewohnten Kontakte, die ihnen im Alltag Struktur, Sicherheit und das Gefühl der Zugehörigkeit gegeben haben.

Kaspar: Alleinstehende, die zuhause leben und hochbetagt oder fragil sind, haben häufig die Spitex oder einen Mahlzeitendienst, die einen täglichen Kontakt geben. Einige leben jedoch ohne Unterstützung von aussen und fühlen sich nun einsamer und verunsichert. Es gibt auch einzelne Hochbetagte, die allein daheim leben und sich mit dem Alleinsein bereits vor der Coronakrise arrangiert haben. Einigen Vulnerablen fehlen die gewohnten Kontakte, die ihnen im Alltag Struktur, Sicherheit und das Gefühl der Zugehörigkeit gegeben haben.

Daenzer: Hier sind die Hilfsdienste der Gemeinde und der Kirchgemeinden sowie von Freiwilligen­Organisationen besonders wichtig, die diese Personen mit Lebensmitteln, Medikamenten und was sie sonst noch un bedingt brauchen, versorgen. Oder sie zum Arzt bringen, damit sie nicht mit dem ÖV fahren müssen. Ebenso wichtig ist aber, dass sich diese Menschen auch emotional nicht allein gelassen fühlen und jemanden haben, der immer wieder telefonisch das Gespräch mit ihnen sucht. Oder den sie von sich aus anrufen dürfen.

Deutschmann: Für die Bewohner, die an Demenz erkrankt sind – im Durchschnitt sind dies die Hälfte der Bewohnenden in den Heimen – ist es nicht mehr nachvollziehbar, was mit ihnen geschieht. Sie haben Angst vor Menschen mit Masken, auch vor den Mitarbeitenden, sie verstehen die neuen Regeln nicht und können nicht begreifen, warum sie jetzt dieses oder anderes machen müssen oder nicht tun dürfen.

Sind Sie auch mit ethischen Dilemmata konfrontiert?

Kaspar: In wenigen Gesprächen kamen die Patientenverfügung oder das Ausfüllen derselben zur Sprache und damit auch die Aussage, dass die betagten Menschen auch ohne Coronavirus bereit wären, zu sterben. Dass dies ein ethisches Dilemma wäre, vernahm ich nicht. Hingegen haben sich einige ältere Menschen mit der Entscheidung, ob sie beatmet werden möchten, auseinandergesetzt und ihre Entscheidung schriftlich festgehalten und den Angehörigen mitgeteilt.

Deutschmann: Es gibt sehr viele ethische Fragen, die nicht beantwortet sind oder auch sehr fragwürdig beantwortet wurden. Ein Beispiel: Ein Bewohner, über 85 Jahre alt, erkrankt an Corona. Er möchte intubiert werden, ins Spital. Dort wird man ihn nicht aufnehmen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder ganz gesund wird klein ist und ein Leben danach eher undenkbar. Also werden diese älteren Menschen in Isolation gebracht und palliativ gepflegt. Dies bedeutet in aller Regel, dass sie den Virus nicht überleben. Ethisch ist das für mich schon sehr fragwürdig. Welche Werte stehen dahinter, solche Entscheide zu treffen?

Was wäre Ihr Vorschlag, Ihre Hoffnung?

Deutschmann: Ich wünsche mir, dass die Betreuung einen deutlich höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft, Politik und bei den Finanzen bekommt. Jetzt wird klar, wie wichtig Betreuung in den Alterszentren ist. Es darf in Zukunft nicht nur die Pflege honoriert werden. Die Betreuung muss mindestens ebenso eingestuft und geschätzt werden. Es gibt ein Danach, ein Danach nach dem Virus, wir dürfen nicht einfach übergehen zur Normalität. Denn Normalität heisst: den Zustand, den wir vorher hatten. Diesen will ich gar nicht mehr zurück. Für die Heime ist der ganze Spuk nicht in ein, zwei Monaten vorbei. Diese besondere Situation wird in den Heimen mit Risikopatienten bleiben. Bis ein Impfstoff gefunden wird. Dies dauert mindestens eineinhalb Jahre. Damit haben wir genug Zeit, den Stellenwert der Betreuung anzusprechen und die «Normalität» anzupassen.

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© Paul Schiller Stiftung, April 2020