Interview

«Uns droht eine Zweiklassen-Langzeitversorgung»

Dr. iur. Martina Filippo forscht im Bereich des schweizerischen Sozialversicherungsrechts, dort befasst sie sich insbesondere mit Themen rund um die Angehörigenbetreuung. Im Gespräch erklärt sie, wo der dringlichste Handlungsbedarf im Bereich guter Betreuung besteht.

05.07.2021

gutaltern.ch (GA): Frau Filippo Sie sind Juristin. Was versteht Ihr Berufsstand unter Betreuung?

Martina Filippo (MF): Das ist eine gute Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Wir Juristinnen lieben Definitionen, je klarere desto besser, am liebsten in einem Gesetz oder einer Verordnung sauber umschrieben und abgrenzbar. Fehlt eine gesetzliche Definition, wird diese oft durch die Rechtsprechung präzisiert. Leider gibt es weder eine gesetzliche noch eine richterliche Definition davon, was Betreuung ist. Deshalb ist der Begriff juristisch unklar. Meist wird von «Pflege und Betreuung» gesprochen, wobei auch der Begriff «Pflege» in keinem Gesetz definiert ist. Auch der Versuch, Betreuung in Abgrenzung zu Pflege zu definieren, fällt demnach schwer. Wir haben lediglich eine Umschreibung der Leistungsbereiche der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Art. 7 KLV). Als «Pflege» in der Juristerei gilt alles, was in eben diesem Leistungskatalog enthalten ist und von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet wird. Ob alles andere als «Betreuung» gelten soll, ist unklar, auch wo die Grenze gezogen werden soll, was nicht mehr zu Betreuung gehört. Gehören zum Beispiel Leistungen im Haushalt auch zur Betreuung oder sollen nur Leistungen, die effektiv «an der Person» vorgenommen werden, als Betreuung gelten? Im Sozialversicherungsrecht gibt es auch Leistungen für sogenannte «Hilflosigkeit». Gemäss Gesetz (Hinweis Art. 9 ATSG) gilt eine Person dann als hilflos, wenn sie wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Die Rechtsprechung hat diese alltäglichen Lebensverrichtungen in sechs Bereiche unterteilt: Ankleiden und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen und Abliegen, Essen, Körperpflege, Verrichten der Notdurft, Fortbewegung im oder ausser Haus und die Kontaktaufnahme. Will man aber daran eine Definition der Betreuung festmachen, ist das eine enge Definition aus einem stark körperzentrierten Blickwinkel.

Dr. iur. Martina Filippo

Martina Filippo arbeitet seit 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialrecht an der ZHAW. Zuvor war sie als Substitutin bei Poledna RC und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Gächter an der Universität Zürich tätig. Parallel zu ihrer Dissertation, absolvierte sie das Phd-Programm „Biomedizin und Ethik“ der Universität Zürich. Schwerpunktmässig forscht Martina Filippo im Bereich des schweizerischen Sozialversicherungsrechts, insbesondere mit Themen rund um die Angehörigenpflege. Neben ihrer juristischen Tätigkeit arbeitet Martina Filippo als Tanzpädagogin und im Künstlermanagement.

GA: Juristinnen und Juristen respektive die Gesetze fokussieren demnach stark auf das körperliche Wohlbefinden und haben einen biomedizinischen Blickwinkel. Was denken Sie, warum ist dies so und welche Konsequenzen hat dies?

MF: Im Endeffekt dreht es sich um die Frage, ob Leistungen vergütet werden oder nicht. Damit ein Leistungsanspruch besteht, muss der Bedarf nachgewiesen sein. Der Arzt oder die Ärztin spielt eine zentrale Rolle im Sozialversicherungsrecht: Die ärztliche Anordnung einer Behandlung, Therapie oder Kur hat zur Folge, dass diese von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet werden. Deshalb liegt der Fokus stark auf dem, was medizinisch nachweisbar oder messbar ist. Alles was objektiv messbar ist, zum Beispiel durch Bildgebung oder Laborresultate, vereinfacht nachzuweisen, welcher Leistungsanspruch gerechtfertigt ist. Dies hat zur Folge, dass alles, was irgendwie sichtbar ist respektive sichtbar gemacht werden kann, eher vergütet wird als «unsichtbare» Beschwerden. Gerade der altersbedingte Kräftezerfall ist keine für sich alleine stehende Krankheit: Oft führen erst zahlreiche «kleinere» gesundheitliche Einschränkungen – welche für sich betrachtet keine Probleme darstellen – zu einer Betreuungs- oder Pflegebedürftigkeit.

GA: Sie schreiben in Ihrem Beitrag für die Zeitschrift Pflegerecht, es drohe eine Zweiklassen-Langzeitversorgung – wie ist dies zu verstehen, welche Anhaltspunkte gibt es dazu?

MF: Da eben gerade diese sogenannten Betreuungsleistungen nicht von den Sozialversicherungen vergütet werden, müssen sie von den Betreuungsbedürftigen selbst eingekauft werden. Wenn ich von Betreuungsleistungen spreche, dann meine ich etwa Haushaltshilfen, Besuchs- und Begleitdienste, Hilfe für Sport ausser Haus oder bei sozialen Aktivitäten. Da aber gute Betreuung den Gesundheitszustand gerade von alten Menschen stabilisieren oder verbessern kann und als Folge davon Heimeintritte hinauszögert oder gar verhindert werden, wäre es wichtig Betreuungsleistungen fairer zugänglich zu machen. Denn Menschen, denen die finanziellen Mittel zum Einkauf dieser Leistungen fehlen, haben ein erhöhtes Krankheitsrisiko und treten als Folge davon oft auch früher ins Heim ein. Letztlich sind aber in der Regel Heimaufenthalte, vor allem bei geringer Pflegestufe teurer als ein Verbleib in den eigenen vier Wänden. Auch wenn der Verbleib zu Hause allfällig mit Spitexleistungen ermöglicht wird. Ein teurer Heimaufenthalt frisst schnell die letzten Ersparnisse weg. Dann springen die Ergänzungsleistungen ein. Diese geraten aber zunehmend auch unter Spardruck. Ein weiterer Faktor sind betreuende und pflegende Angehörige, die oftmals auch Leistungen erbringen, auf die eigentlich ein sozialversicherungsrechtlicher Vergütungsanspruch besteht.

GA: Sie erwähnen die Angehörigen. Wie könnte ihre Situation verbessert werden?

MF: Betreuenden und pflegenden Angehörigen wurde bis vor kurzem in der Politik kaum Beachtung geschenkt. Dabei übernehmen sie viele wichtige Aufgaben, auf die oft ein sozialversicherungsrechtlicher Anspruch besteht. Sie entlasten mit ihren Leistungen so auch das System. Nur leider werden ihre Leistungen kaum honoriert. Nicht selten reduziert die informell betreuende und pflegende Person ihr Arbeitspensum oder gibt ihre Erwerbstätigkeit ganz auf. Sie ist bei Krankheit, Unfall, Invalidität oder im Alter schlechter abgesichert und wird selbst vermehrt auf Bedarfsleistungen angewiesen sein. Das Problem ist, dass sich unser Sozialversicherungssystem an einem Arbeitnehmer orientiert, der Vollzeit bei einem Arbeitgeber arbeitet und eine kontinuierliche Erwerbsbiografie aufweist. Nur entspricht dies schon lange nicht mehr der heutigen Erwerbsrealität.

GA: Welche Möglichkeiten gibt es, die Situation betreuender und pflegender Angehöriger zu verbessern?

Auf der Ebene der Sozialversicherungen könnten im bestehenden System gewisse Lücken durch mehr oder minder kleine Anpassungen geregelt werden. So wurde zum Beispiel der Anspruch auf Betreuungsgutschriften der AHV erst kürzlich auch auf die Betreuung von Personen mit leichter Hilflosigkeit ausgeweitet (Art. 29septies Abs. 1 AHVG). Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Denkbar wäre etwa, die Höhe der Betreuungsgutschriften an den Grad der Hilflosigkeit anzupassen, also je höher der Grad der Hilflosigkeit der betreuten Person, desto höher die Betreuungsgutschrift. Eine ähnliche Lösung wäre auch für die 2. Säule denkbar. Denkbar wäre auch die Abschaffung der Eintrittsschwelle in die berufliche Vorsorge oder dass zumindest bei mehreren Stellen bei verschiedenen Arbeitgebenden die Löhne zusammengerechnet würden. Auch wurden vor kurzem einige Verbesserungen im Arbeitsrecht vorgenommen, welche die Vereinbarkeit von Betreuung sowie Pflege und Erwerbstätigkeit verbessern sollen. Neu haben Arbeitnehmende Anspruch (Art. 36 Abs. 3 ArG und Art. 329h OR) auf bezahlten Urlaub für die Zeit, die zur Betreuung eines Familienmitglieds, einer Lebenspartnerin oder eines Lebenspartners mit gesundheitlicher Beeinträchtigung notwendig ist. Am 1. Juli trat zudem die Betreuungsentschädigung in Kraft (Art. 16n EOG). Der Anspruch auf den Erwerbsersatz ist für Eltern vorgesehen, deren minderjähriges Kind infolge schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigungen einen erhöhten Bedarf an Begleitung und Pflege hat. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, doch gingen die Anpassungen viel zu wenig weit. Vor allem im Hinblick auf Personen, die erwachsene Langzeitpflegebedürftige betreuen und pflegen. Zudem sind die Arbeitgebenden gefordert: Sie können durch flexible Lösungen für ihre betreuenden und pflegenden Arbeitnehmenden ihren Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten.

GA: Wie sollen diese zusätzlichen Leistungen finanziert werden?

MF: Dies ist ein politischer Entscheid. Meine ideale Lösung wäre eine eigenständige Betreuungs- und Pflegeversicherung. Dabei fragt sich aber, ob man dem heutigen «Versicherungsdschungel» noch eine weitere Versicherung hinzufügen möchte oder ob nicht das ganze System grundlegend überarbeitet werden sollte. Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko gibt es in der Schweiz nicht. Sie wird immer im Schlepptau mit Krankheit, Unfall, Invalidität oder Alter behandelt. Dies könnte man vereinheitlichen und die Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit als (einzigen) eigenständigen Anknüpfungspunkt beiziehen. Auf jeden Fall lohnt sich ein Blick ins Ausland. In Europa haben die Niederlande, Deutschland, Luxemburg, Österreich, Belgien oder Spanien Pflegeversicherungen. Auch in Japan gibt es seit 2000 eine Pflegeversicherung, welche nur das Risiko der altersbedingten Pflegebedürftigkeit absichert und über Beiträge von Personen über 40 Jahren finanziert wird. Auch stellt sich die Fragen, ob man Angehörige aktiv einbinden und gar für ihre Leistungen bezahlen möchte.

GA: Sie schreiben, dass bei der Überarbeitung des Systems nicht nur wirtschaftliche, sondern auch grundrechtliche Aspekte zu berücksichtigen sind. An welche Grundrechte denken Sie konkret und wie werden diese geschützt?

MF: Werden einzig die Kosten berücksichtigt, die nur der Versicherer zu tragen hat, kann das auf Seiten des Versicherten zu einem indirekten Heimzwang führen. Es droht eine Leistungsverweigerung, die den Versicherten vor die Wahl stellt, entweder ins Heim zu gehen oder zu wenig Geld zu erhalten. Das Recht auf Privat- oder Familienleben, die Wirtschaftsfreiheit oder die Eigentums- und Ehefreiheit können dadurch beeinträchtigt werden. Gerade aber auch bei Reformen spielt das übergeordnete Recht eine wichtige Rolle. So sieht die Behindertenrechtskonvention der UNO, welche die Schweiz ratifiziert hat, zahlreiche Rechte vor, die im bestehenden System verletzt werden. Da der Behinderungsbegriff der Konvention breit gefasst ist, können durchaus auch alte Menschen darunterfallen, da grundsätzlich alle Menschen darunterfallen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können (Art. 1 BRK). Der Auftrag an die Vertragsstaaten ist klar: Sie müssen die freie Lebensgestaltung von gesundheitlich beeinträchtigten und behinderten Menschen sicherstellen. So dass diese eine echte Wahlmöglichkeit haben und gleich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Klar können finanzielle Gründe Einschränkungen rechtfertigen, sie dürfen aber nicht als Entschuldigung herhalten, nichts zu unternehmen – vor allem nicht in einem so reichen Land wie der Schweiz.