Interview

«Wenn sich jemand öffnet, haben wir die Möglichkeit, auf Angebote hinzuweisen»

300’000 bis 500’000 Personen ab 60 Jahren sind jedes Jahr von einer Form von Gewalt oder Misshandlung betroffen. Dennoch wird «Gewalt im Alter» in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Paolo Nodari will das ändern und leistet schon heute mit der Pro Senectute in der Südschweiz wichtige Pionierarbeit.

08.11.2022

Der Bundesrat prüft ein Impulsprogramm zur Prävention von Gewalt im Alter. Darin könnte ein Fokus auf zugänglichen Betreuungsangeboten liegen. Wir wollen deshalb der Frage nachgehen, wie sich Gewalt im Alter in der Schweiz zeigt, welchen Beitrag eine gute Betreuung leisten kann, um das Gewaltrisiko für alte Menschen zu senken und was es heute bereits an Präventionsangeboten gibt. Wir vertiefen dieses Thema mit diesem Interview, einem Gespräch mit der Professorin Delphine Roulet Schwab und mit dem online Live-Talk vom 15. November 2022.

Welche Formen von Gewalt im Alter erleben Sie im Beratungsalltag am häufigsten?

Am häufigsten sind psychische und finanzielle Misshandlungen. Auch Vernachlässigungen zählen dazu. Physische oder sexuelle Misshandlungen werden uns nur selten gemeldet. Wenn eine Straftat besteht, leiten wir die Meldung an die Polizei weiter.

Mit welchen Angeboten können Sie gewaltbetroffenen Menschen helfen?

Im Tessin arbeitet Pro Senectute seit 2008 mit dem Kanton zusammen. Wir haben den Dienst «Prävention und Förderung der Lebensqualität» gegründet. Für ihn sind eine Sozialarbeiterin und zwei Psychologen tätig. Sie erteilen allgemeine Auskunft zum Thema, wissen Rat und sorgen dafür, dass Meldungen von Verdacht auf Misshandlungen nachverfolgt werden und die Betroffenen Hilfe erhalten. Für eine umfassende und effiziente Intervention arbeitet dieser Dienst eng mit unserem Sozialberatungsdienst zusammen. Diese konkrete und direkte Unterstützung richtet sich an ältere Menschen aber auch an Angehörige und ist bei der Pro Senectute Schweiz einzigartig.

Sehr wichtig ist für uns die Prävention. Deshalb bieten wir Schulungen und Sensibilisierungskurse, beispielsweise in Altersheimen, in Haushaltsdiensten, bei Tagesstätten und Berufsschulen von Pflegefachpersonen und sozialen Berufen. Das Weiterbildungsangebot beschränkt sich nicht nur auf das Thema der Misshandlungen aus theoretischer Sicht. Sondern sie stützt sich auch auf die berufliche Erfahrung und das Wissen der einzelnen Fachperson und bereichert es. Der Schwerpunkt liegt auf Interaktion und Austausch. Dazu sind wir im Kontakt mit Sozialpädagog:innen und Pflegefachpersonen und aber auch mit den Verantwortlichen der Institutionen.

«Man spricht weniger über die kleineren, täglichen Misshandlungen, obschon sie tragische Folgen für die älteren Menschen haben.»
Paolo Nodari, Geschäftsführer Pro Senectute Tessin und Moesano

Wer ruft bei Ihrem Dienst an? Sind es Betroffene, überforderte Angehörige oder Drittpersonen, die eine Beobachtung melden?

Weil unser Dienst in der Ausbildung präsent ist, kommen viele Anrufe von Menschen, die in Altersheimen oder Spitexdiensten beruflich tätig sind. Es sind Leute, die merken, dass irgend etwas passiert, das nicht stimmt. Sie möchten sich austauschen und suchen einen Rat. Es ist ihnen wichtig, sich frei zu äussern und mit einer Person zu sprechen, die nicht in derselben Institution arbeitet. Auch von Nachbar:innen und Angehörigen erhalten wir natürlich Anrufe. Viele Anrufende aber wollen anonym bleiben. Das respektieren wir.

Was ist aus Ihrer Sicht die grösste Herausforderung, wenn wir in der Schweiz das Risiko alter Menschen reduzieren wollen, Opfer von Gewalt zu werden?

Von Gewalttaten hört und liest man im Fernsehen und in den Zeitungen. Aber man spricht weniger über die kleineren, täglichen Misshandlungen, obschon sie tragische Folgen für die älteren Menschen haben. Für uns ist wichtig, die Bevölkerung über dieses Thema zu informieren. Auf nationaler Ebene haben wir zusammen mit dem Verein «Alter Ego» und der UBA, der unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter, das «Nationale Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt» gegründet. Dieses engagiert sich für die Prävention gegen Misshandlung an älteren Menschen.

Betreuung ist in unserem Verständnis alltagsnahe, psychosozial und agogisch ausgerichtete Unterstützung, um dem älteren Menschen möglichst lange viel Selbständigkeit zu ermöglichen, Ressourcen zu erhalten, Einsamkeit zu verhindern. Wie hängt aus Ihrer Sicht eine Stärkung der Betreuung mit Gewaltprävention zusammen?

Es ist klar, dass Betreuung einen Einfluss auf Gewaltprävention hat. Betreuende Personen verdienen Anerkennung für Ihre Arbeit! Jeden Tag sehen wir, dass es für betreuende Angehörige wichtig ist, dass sie nicht auf sich allein gestellt sind und die nötige Unterstützung erhalten. Wenn jemand eine schwierige Situation erlebt hat, braucht es die Möglichkeit, mit jemandem sprechen zu können. Das ist der entscheidende erste Schritt: Wenn sich jemand öffnet, haben wir die Möglichkeit, auf bestehende Unterstützungsangebote hinzuweisen und Kontakte herzustellen.

Der Bund prüft ein Impulsprogramm zu Gewalt im Alter, mit einem Fokus auf Betreuung im Alter. Finden Sie ein solches notwendig?

Ein solches Programm erachte ich natürlich als notwendig. Der Bundesrat hat am 22. Juni den Aktionsplan zur Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt veröffentlicht. Darin nennt er Informationen und Sensibilisierung der Bevölkerung in der ganzen Schweiz als wichtige Aufgabe. Dazu gehört auch die Beratung sowie Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen. Damit können wir das Risiko von Misshandlungen im Alter mindern.

Zur Person

Paolo Nodari, 54 Jahre, ist Geschäftsführer der Stiftung Pro Senectute Tessin und Moesano. Er ist verantwortlich für die Abteilung «Förderung der Lebensqualität», die in der Südschweiz bei Gewalt und Misshandlungen im Alter eine wichtige Anlaufstelle ist.